„Wilde Streiks“ im Sommer 1973

Hans Zaremba über eine Rückblende der IG Metall

Vor 50 Jahren fanden in Deutschland über 300 „wilde Streiks“ statt, von denen in Nordrhein-Westfalen vor allem die Arbeitsniederlegungen bei „Ford“ in Köln und „Pierburg“ in Neuss verstärkt in der Erinnerung geblieben sind. Es waren vor allem Beschäftigte aus Griechenland, Spanien, Italien, Jugoslawien und der Türkei, die durch spontane Aktionen ihre Forderungen nach mehr Lohn und Gleichbehandlung gegenüber ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen erhoben. Auch bei der „Hella“ in Lippstadt wurden im Juli 1973 derartige Arbeitsniederlegungen registriert.

Die „wilden Streiks“ von 1973 war im Lippstädter Rathaussaal ihr Thema:
Von links Sükran Budak, Irina Vavitsa, Vito Ficara und Nihat Öztürk.
Foto: Hans Zaremba

Wirkungen

An die Vorgänge vor einem halben Jahrhundert erinnerte jetzt die Industriegewerkschaft Metall (IGM) mit einer öffentlichen Diskussionsrunde im Lippstädter Rathaussaal. Unter der Gesprächsleitung von Sükran Budak, Gewerkschaftssekretärin beim Bundesvorstand der IGM, waren die damaligen „Hella“-Arbeiternehmer Irina Vavitsa, eine gebürtige Griechin, und der aus Italien stammende Vito Ficara, mit von der Partie. Die resolute Frau und der willensstarke Mann berichteten als Zeitzeugen über ihre persönlichen Erfahrungen aus dem Sommer 1973. Ergänzt wurde das Trio auf dem Podium durch Nihat Öztürk, Vorstandsmitglied der Gewerkschaftsinitiative „Gelbe Hand“ und einstiger Erster Bevollmächtigter der IGM Düsseldorf-Neuss, der zum Thema die folgende Einreihung gab:  Von 1964 bis 1972 seien rund 80 Prozent aller Streiks spontane Aktionen gewesen. Während die Arbeiternehmer bei „Ford“ erfolglos blieben, hätten die Streikenden bei „Pierburg“ und „Hella“ ihre Wirkungen erzielt. Entladen hatte sich in 1973 die Wut bei den migrantischen Arbeiternehmerinnen und Arbeiternehmern über die massiven Benachteiligungen, denen sie sich ausgesetzt sahen. Vor allem war die niedrige Entlohnung ein wesentlicher Aspekt ihres Unmuts. Eine der damals streikenden Frauen war die in der Sowjetunion geborene Irina Vavitsa, die 1971 im Zuge des Anwerbeabkommens aus Griechenland nach Lippstadt gekommen war.

Lernprozess

„Wir kamen mit einem Koffer voller Hoffnung, mussten dann aber feststellen, dass man uns hier ungerecht behandelt“, blickte die unbeirrte Frau auf die Ereignisse in 1973 zurück. Sie schilderte im Rathaussaal ihre seinerzeitige Situation in einer Ein-Raum-Wohnung mit Gemeinschaftsküche und -bad. Ihre Tätigkeit verrichtete sie am Band, zehn Stunden am Tag, auch am Samstag. Im Verlauf der Zeit bemerkte sie wie andere Kolleginnen aus Spanien, Griechenland, Italien und Jugoslawien, dass offensichtlich Herkunft und Geschlecht bei ihrer Entlohnung eine Rolle spielten. Die Verbitterung der sogenannten Gastarbeiter nahm zu, als sie herausfinden, dass deutsche Facharbeiter über ihren eigentlichen Lohn hinaus ferner noch freiwillige Zulagen vom Arbeitgeber erhielten. „Wir wollten keine Slaven sein, wir wollten hier leben“, erläuterte die spätere Betriebsrätin Vavitsa beim IGM-Treffen das Unbehagen im Kreis der ausländischen Arbeiternehmerinnen. Somit stellten sie am 16. Juli 1973 kurzweg ihre Arbeit ein. Ebenso der aus Mailand in Lippstadt verpflichtete Vito Ficara. Die damaligen Arbeitnehmer mit einem migrantischen Hintergrund kannten zwar ihre Pflichten, doch die Aufgaben eines Betriebsrats sowie die gewerkschaftlichem Strukturen und Tarifverträge waren ihnen fremd. Zudem tat sich der DGB (Deutscher Gewerkschaft-Bund) in jener Zeit aus Sorge vor einem möglichen Unterlaufen der Tarifverträge mit den aus Südeuropa geholten Arbeitskräften schwer. Der Streik in Lippstadt dauerte vier Tage. Es gab Versuche, die Demonstrierenden als Unruhestifter zu kriminalisieren. Obendrein wurde die Polizei bemüht, gegen die Protestierenden vorzugehen. Indessen schloss sich ein breites Bündnis von „Hella“-Beschäftigten, der Lippstädter Bevölkerung und aus der Politik an. Das Resultat waren ohne Begleitung durch die Gewerkschaften Lohnerhöhungen von 40 Pfennig für die unteren Gruppen, drei Groschen für die oberen. Für die IGM lösten die „wilden Streiks“ von 1973 durchaus einen Lernprozess aus, so Sükran Budak als Moderatorin des Abends im Rathaus. Immerhin hat heute ein knappes Viertel der Metall-Gewerkschaftler eine Migrationsgeschichte.